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Gibt es eine größere Freude als die Heimkehr? Gibt es lebhaftere Erinnerungen oder strahlendere Hoffnungen?
Serena Butler
Als Serena beim ersten blassen Licht des neuen Tages erwachte, fand sie sich allein in einem weichen Bett wieder, das von beruhigenden Farben, Klängen und Gerüchen umgeben war. Nach Fredos Tod hatte sie ihrer Mutter in der Stadt der Introspektion viele Besuche abgestattet und die kontemplative Atmosphäre genossen. Doch bereits nach kurzer Zeit war sie jedes Mal ungeduldig geworden. Die Meditationen und Grübeleien waren ihr zu wenig, sie wollte lieber etwas Aktiveres unternehmen.
Sie zog sich schnell an, während es draußen immer heller wurde. Xavier war vielleicht schon auf Salusa eingetroffen. Der kurze Schlaf hatte ihr gut getan, aber sie spürte ein bleiernes Gewicht in ihrer Brust, von dem sie sich erst dann erleichtern konnte, wenn sie Xavier wiedersah und ihm von ihrem Sohn erzählte. Trotz ihrer schweren seelischen Verletzungen dachte sie auch jetzt nicht daran, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.
Bevor die Stadt der Introspektion vollständig erwacht war, hatte sich Serena leise zu einem Nebengebäude begeben und ein kleines Bodenfahrzeug ausfindig gemacht. Sie wollte ihre Mutter nicht stören. Serena hob entschlossen das Kinn und wollte keine weitere Verzögerung zulassen. Sie hatte schon lange genug gewartet.
Sie bestieg das Gefährt und ging die vertrauten Aktionen durch, um es zu starten. Sie wusste, wohin sie fahren musste. Sie rollte durch das offene Tor und nahm die Straße, die zum Anwesen der Tantors führte, wo Xavier zu Hause war. Sie hoffte, dass sie ihn dort fand ...
Emil Tantor öffnete ihr die schwere Holztür und betrachtete sie voller Erstaunen. »Wir sind so glücklich, seit wir von deiner Rückkehr erfahren haben!« Seine braunen Augen waren genauso freundlich und warm wie in ihrer Erinnerung.
Graue Wolfshunde bellten im Foyer und stürmten an Emil vorbei, um Serena aufgeregt zu begrüßen. Trotz ihrer Sorgen musste sie lächeln. Ein Junge mit großen Augen schaute herein. »Vergyl! Was bist du groß geworden!« Sie musste ihre Traurigkeit unterdrücken, weil er sie lebhaft daran erinnerte, wie lange sie fort gewesen war.
Bevor der Junge etwas sagen konnte, bat Emil sie herein. »Vergyl, bitte bring die Hunde nach draußen. Wir müssen diese arme Frau schonen, die so viel durchgemacht hat.« Er sah sie mit einem mitfühlenden Lächeln an. »Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass du uns besuchst. Möchtest du ein Glas Morgentee mit mir trinken, Serena? Lucille brüht ein recht kräftiges Getränk auf.«
Sie zögerte. »Eigentlich wollte ich zu Xavier. Ist er noch nicht zurückgekehrt? Ich muss mit ihm ...« Sie verstummte, als sie die verblüffte Miene des alten Mannes bemerkte. »Was ist los? Geht es ihm gut.«
»Nein ... ja ... mit Xavier ist alles in Ordnung, aber ... er ist nicht hier. Er ist direkt zum Haus deines Vaters gefahren.« Offenbar gab es noch mehr, das Emil Tantor ihr hätte sagen können, aber er schwieg.
Besorgt über seine Reaktion dankte Serena ihm und lief zu ihrem Fahrzeug zurück. Der alte Mann blieb an der Holztür stehen. »Also werde ich ihn dort wiedersehen.« Xavier hatte vermutlich wichtige Dinge mit ihrem Vater zu besprechen. Vielleicht planten sie bereits die Hilfsaktion für die Rebellen auf der Erde.
Sie fuhr zum vertrauten Anwesen auf dem Hügel inmitten von Weinbergen und Olivenhainen. Ihr Herz schmerzte, als sie vor dem Haupteingang anhielt. Zu Hause. Und Xavier war auch da.
Sie parkte am Brunnen und lief atemlos zur Vordertür. Ihre Augen brannten, und ihre Beine zitterten. Sie hörte den Pulsschlag, mit dem ihr Blut durch die Ohren rauschte. Noch größer als die Schuld, die sie auf sich geladen hatte, oder die Angst vor dem, was sie sagen musste, war die Sehnsucht, wieder bei ihrem Geliebten zu sein.
Xavier öffnete die Tür, bevor Serena die Schwelle erreicht hatte. Im ersten Augenblick war sein Gesicht wie ein Sonnenaufgang, so strahlend hell, dass sie geblendet war. Er sah älter, stärker und noch attraktiver aus, als sie ihn sich in ihren Phantasien vorgestellt hatte. Sie glaubte zu zerfließen.
»Serena!« Er keuchte, dann grinste er und schloss sie in die Arme. Schon nach kurzer Zeit löste er sich unbeholfen von ihr. »Ich wusste, dass du dich in der Stadt der Introspektion aufhältst, aber mir war nicht klar, dass du dich so schnell erholt hast. Ich bin mitten in der Nacht eingetroffen, und ich, äh ...« Ihm schienen die Worte zu fehlen.
»Ach, Xavier, das alles ist so unwichtig! Ich wollte unbedingt wieder bei dir sein. Ich habe dir so vieles ... so vieles zu erzählen.« Mit einem Mal drückte wieder die Last der Tragödien auf ihre Schultern, und ihre Stimme versagte.
Er streichelte ihre Wange. »Serena, ich habe schon von der schrecklichen Neuigkeit erfahren. Ich habe von ... unserem Sohn gehört.« Er sah sie voller Trauer und Schmerz an, aber er schien bereit, die Tatsachen zu akzeptieren.
Als sie ins Foyer traten, zog sich Xavier von ihr zurück, als wäre ihre Nähe unangenehmer als eine Konfrontation mit allen Streitkräften der Denkmaschinen. »So viel Zeit ist vergangen, Serena, und wir alle haben geglaubt, dass du tot bist. Wir haben die Trümmer deines Schiffs gefunden, die Blutspuren analysiert und darin deine DNS gefunden.«
Sie griff nach seiner Hand. »Aber ich habe überlebt, mein Geliebter! Ich habe ständig an dich gedacht.« Sie suchte in seinem Gesicht nach Antworten. »Meine Erinnerungen an dich haben mir die Kraft zum Durchhalten gegeben.«
Schließlich sprach er die Worte aus, die wie schwere Steine fielen. »Ich bin jetzt verheiratet, Serena.«
Ihr Herzschlag schien plötzlich auszusetzen. Serena wich einen unsicheren Schritt zurück und stieß gegen einen kleinen Tisch, der krachend umstürzte und eine Vase mit frischen roten Rosen mitriss, die sich wie Blut auf dem gekachelten Boden verteilten.
Sie hörte schnelle Schritte aus dem Wohnzimmer. Die schlanke Figur einer jungen Frau mit langem Haar und großen Augen erschien und stürmte auf sie zu. »Serena! Ach, Serena!« Octa trug ein Bündel in den Armen, dass sie fest an ihre Brust drückte, aber sie schaffte es trotzdem, ihre Schwester mit einer Umarmung zu begrüßen.
Außer sich vor Freude stand Octa neben ihrem Ehemann und ihrer Schwester, doch als ihr Blick zwischen beiden hin und her wanderte, verwandelte sich ihr glücklicher Gesichtsausdruck in peinliche Verlegenheit.
Das Bündel in Octas Armen rührte sich und gab einen Laut von sich. »Das ist unsere Tochter Roella«, sagte sie, in beinahe entschuldigendem Tonfall. Sie zog das Tuch zurück, um Serena das wunderschöne Kind zu zeigen.
Ein Bild blitzte vor Serenas geistigem Auge auf: ihr zu Tode erschrockener Sohn, wenige Sekunden bevor Erasmus ihn vom hohen Balkon fallen ließ. Octas Baby hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem kleinen Manion, der ebenfalls Xaviers Kind gewesen war.
Serena taumelte benommen und fassungslos zur Tür, während um sie herum die Welt zusammenbrach. Dann lief sie wie ein verwundetes Rehkitz davon.